Wenn die Clickbaiting-Marktschreier von FOCUS Online (»Deutschlands modernes Nachrichtenmagazin für Fakten- und Qualitätsjournalismus«, laut Eigendarstellung) notorisch irgendwelche Binsenweisheiten aus Wikipedia abschreiben und ohne Quellenangabe ihrem Leser-Klickvieh andienen, tun sie das freilich nicht unter der Devise »FOCUS Online schreibt irgendwas irgendwo ab«, sondern unter
»FOCUS Online klärt auf«. Kennt man ja. Zum Beispiel:
FOCUS Online
klärt also auf schreibt also
aus Wikipedia ab, woher die Redewendung angeblich kommen soll:
»Vermutlich geht die Redensart auf eine Sitte aus dem späten Mittelalter zurück: Bei Sportwettkämpfen, wie dem Augsburger Schießfest, wurde dem Verlierer als Trostpreis ein Schwein geschenkt. Wer das Schwein bekam, erhielt etwas, ohne es eigentlich verdient zu haben.«
Wo immer der Wikipedia-Autor diesen offenkundigen Unsinn aufgeschnappt haben mag, gibt er nicht preis
*) – jedenfalls findet sich für das angebliche Augsburger Trostpreisschwein nirgendwo ein historischer Beleg. Im Gegenteil führt er ebendiese Herleitungstheorie selber ad absurdum, indem er aus Sebastian Brants 1494 veröffentlichtem Narrenschiff als vermeintliche Belegstelle anführt:
»Wer schießen will und fält des rein Der dreit die suw im ermel heim«
Wie sollte sich denn eine beim Schießfest gewonnene Sau »im Ärmel« heimtragen lassen? Die Erklärung ist, dass der Verlierer eben kein Schwein als Preis heimtrug, sondern vielmehr mit leeren Händen heimging. Tatsächlich hat die zitierte Redensart von der »Sau« im Ärmel genau die gegensätzliche Bedeutung, wie u.a ebenfalls in Brants Narrenschiff an anderer Stelle nachzulesen ist, sowie bei
Wander, Dt. Sprichwörter-Lexikon:
Die Sau schreit im Aermel. – Brant, Nsch., 75.
Er wird Schimpf und Schaden davon haben. Von denen, die nach etwas streben, das zu erreichen sie nicht fähig sind. »Das einer denn ist so ein geck vnd weiss, das er nichts gwinnet gar vnd dennoch dahin ziehen dar [..] Die suw wirt jm in ermel schreien.«
.
Eine Sau davon tragen/gewinnen. – Murner, Vom luth. Narren; Lehmann, 697, 3.
Eine arge Niederlage erleiden, eine Schlappe erhalten, Schaden davontragen. »Wir soltens haben bass besunnen, wir han ein grobe suw gewunnen.« – »Ir habt nit vil der eer erjagen, als ir die suw habt dannen tragen.«
»Eine Sau gewinnen, die Sau davontragen« bedeutete zur damaligen Zeit somit das exakte Gegenteil zu »Schwein haben«. Nachweislich war es im späten Mittelalter bei Schießfesten indessen Sitte, dass der schlechteste Schütze mitnichten ein (wertvolles) Schwein, sondern zum Spott einen (nutzlosen) Ziegenbock als Preis erhielt, und daher kommt die Redewendung »Einen Bock schießen« = danebenhauen, das Ziel verfehlen, das Nachsehen haben. In der Wikipedia/»FOCUS Online schreibt ab«-Herleitungstheorie vom (Augsburger) Schießfest werden also Bock und Schwein aus zwei völlig unterschiedlichen Redewendungen miteinander vertauscht.
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*) DUDEN Herkunftswörterbuch et al. spekulieren zwar ebenfalls (indem augenscheinlich einer vom andern unreflektiert abschreibt):
»Die Wendung ‘Schwein haben’ „Glück haben“ (im 19. Jhdt. studentensprachlich) geht wohl auf den alten Schützenbrauch zurück, dem schlechtesten Schützen eine Sau als Trostpreis zu geben.«
Wesentlich naheliegender hingegen stammt die Redewendung »Schwein gehabt« vom Kartenspiel her: seit dem Mittelalter wurde das Ass »Sau« (Eichelsau, Schellensau etc.) genannt, und wer die höchste Karte, also die Sau hatte, hatte Glück und gewann das Spiel. Daher der Studentenausdruck »Sau oder Schwein haben«. [nach: Meyers Gr. Konversations-Lexikon; et al.]
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(Update: der monierte Wikipedia-Eintrag wurde mittlerweile
geändert, offensichtlich hat Kollege Kuli hieramts mitgelesen ;)